Ich kann’s schon nicht mehr hören! Was soll „überqualifiziert“ heißen? Zu alt und zu teuer? Mit 56 Jahren verliere ich meinen Job. In den darauffolgenden eineinhalb Jahren verschicke ich wohl an die hundert Bewerbungen. Stellenangebote in meinem Fachgebiet gibt es genug. Aber keine, für die ich niedrig genug qualifiziert bin. Ich gehöre zu den Langzeitarbeitslosen. Zweimal in eineinhalb Jahren schaffe ich es zu persönlichen Vorstellungsgesprächen; alle anderen Bewerbungen werden mit einem Standardschreiben abgelehnt. Ich bekomme gar nicht erst die Gelegenheit zu sagen, dass ich auch um weniger Geld arbeiten würde.
Man erklärt uns, wie wir’s machen sollen: Lebenslanges Lernen wodurch wir unsere „Employability“ aufrechterhalten. Ich bin Privatdozent, Dr. med., MBA. Ich hab‘ Dutzende wissenschaftliche Artikel verfasst, Patente eingereicht, ein Sachbuch geschrieben. Mein Leben besteht seit meinem Einstieg in den Beruf aus nichts anderem als Lernen. Ich hab‘ mein Brot in den USA und in Europa, im Akademischen Bereich und in der Privatwirtschaft verdient. Ich hab‘ ein Hightech Unternehmen gegründet und viele Jahre geführt.
Bis fünfzig heißt es: Lernen, lernen, lernen! Wenn Du nicht genug lernst bist Du selber schuld, dass Du im Beruf nicht weiterkommst. Ab fünfzig bist Du überqualifiziert und nicht mehr „employable.“
Finanzkapitalismus und neoliberale Wirtschaft verlangen Reformen: Nur mehr zwei Jahre Arbeitslosigkeit sollen für die Pension angerechnet werden; das Pensionsalter soll weiter hinaufgesetzt werden. Die Gruppe der zu alten, zu teuren, überqualifizierten Personen wird immer größer. Woher sollen die Arbeitsplätze für Menschen wie mich kommen?
Der Staat hat viel Geld in mich gesteckt: Studium, Wissenschafter an der Universität, Forschungsstipendium für die USA, Spendengelder für die Forschung, viele Millionen Forschungsförderung aus Steuergeld. Herausgekommen ist dabei: Einige Artikel; Patente, die niemand mehr nutzt; einige Hightech Jobs für ein paar Jahre. Die Gesellschaft hat ihr Geld nie zurückverdient; ich kann den Menschen für Ihre Investition in meine Forschung keine bessere Krebsbehandlung anbieten.
Man sagt, wer mit 20 kein Weltverbesserer ist, hat kein Herz; wer mit 50 noch immer Weltverbesserer ist, hat kein Hirn. Schlussfolgerung: Innovation – auch eine Form der Weltverbesserung – lohnt sich nicht! Wäre ich einen geraden Weg gegangen, sei es in Medizin, Akademischer Forschung oder Privatwirtschaft, hätte ich jetzt mit guter Wahrscheinlichkeit einen anständig bezahlten Job. Was ich nicht hätte: Die Bitterkeit, die sich seit eineinhalb Jahren aufstaut!