Der Wissenschaft liegt ein eleganter Prozess zugrunde: Stelle eine Frage an die Natur; formuliere eine Hypothese; entwickle ein Szenario in dem diese Hypothese falsifiziert werden kann; wiederhole. Das entspricht der klassischen Definition der Wissenschaft, die auf Karl Popper und den Logischen Positivismus zurückgeht. Kann eine Hypothese nicht falsifiziert werden, liegt ihr eine Pseudowissenschaft zugrunde. Das kann aber auch zu Verzerrungen führen, da etwa auch viele Kosmologische Hypothesen nicht falsifiziert werden können, ohne dass die moderne Kosmologie dadurch zu einer Pseudowissenschaft würde. Falsifizieren wird daher heutzutage durch Begriffe wie untermauern, erhärten, bekräftigen – im Englischen corroborate – ersetzt. Worte wie beweisen, bestätigen, verifizieren werden eher vermieden.
Das Motto „publish or perish“ bestimmt die Realität der Wissenschaft der letzten Jahrzehnte. Viel zu oft kann die Wissenschaft nicht die Fragen stellen, auf die es ankommt, sondern muss die Fragen stellen, die gute Chancen haben, eine statistisch signifikante Antwort zu liefern. Der Prozess der Wissenschaft hat seine Eleganz eingebüßt: Finanziere um zu publizieren; publiziere um zu finanzieren. Das gleicht eher dem Laufrad in einem Mauskäfig als einem fortschreitenden Prozess, dessen Ziel ein immer weiter verbessertes Verstehen der Welt ist.
Vor allem die Biomedizinische Forschung erlebt seit den 1960er Jahren einen fabelhaften Aufschwung, der von progressiv steigender Finanzierung getragen wird. Seit etwa einem Jahrzehnt hat die Finanzierungskurve ein Plateau erreicht. Die Forschungsbudgets der meisten Länder erhöhen sich zur Not um die Inflationsrate; mehr ist nicht mehr drinnen. Gleichzeitig konkurrieren immer mehr Wissenschafter/innen um stagnierende Fördertopfe. Wo vor einigen Jahren noch ein Drittel aller beantragten Forschungsprojekte mit einer Finanzierung rechnen konnten, ist es heute nur mehr ein Zehntel; das betrifft die EU genauso wie die USA. China und Indien mögen eine Ausnahme sein; beide starten aber von einem wesentlich niedrigeren Niveau mit dem Versuch, in der Forschung an die Westliche Welt anzuschließen.
Fixe Anstellungen sind in der Akademischen Forschung die Ausnahme. Einem Doktorat folgen oft einige mehrjährige Jobs mit befristeter Finanzierung; die Gehälter sind im Vergleich mit den Qualifikationen der Forschenden eine Schade. Frauen sind wie überall anders auch nach wie vor benachteiligt. Die Gründung einer Familie ist für die meisten Wissenschafterinnen weder finanziell noch vom erforderlichen Zeitaufwand her eine realistische Option.
Bis zu einer fixen Anstellung an einer Universität kann es ein Jahrzehnt dauern. Im Englischen Sprachraum wird das als Tenure Track bezeichnet: Während einer Zeitspanne von 10 Jahren können sich junge Wissenschafter/innen bewähren; nach etwa 3 und 6 Jahren werden die Leistungen überprüft und auf dieser Basis über eine Fortsetzung oder den Abbruch des Tenure Track entschieden; nach 10 Jahren erhalten die wenigen Auserwählten eine Fixanstellung. Das bedeutet nicht den Ausstieg aus dem Laufrad! Die eigene Stelle ist zwar finanziert, aber nicht viel mehr als das. Auch weiterhin sind für den überwiegenden Teil der Forschungsprojekte externe Finanzierungen erforderlich; auch weiterhin gilt die Notwendigkeit des Publizierens um eine Chance auf Finanzierung von Projektanträgen zu wahren.
Mitte der 1990er Jahre habe ich selber läppische 7 Jahre nach dem Abschluss meines Studiums einen fixen Job in der akademischen Forschung. Möglich ist das aufgrund der Kombination von klinischer Arbeit und Wissenschaft; ein Weg der Mediziner/innen vorbehalten ist. Nachteil: Wenn man es ernst meint sind das zwei Fulltime Jobs! Und nur wenn man es wirklich ernst meint geht sich das für längere Zeit aus. Ich forsche an einer Institution die eine halbwegs vernünftige Basisfinanzierung zur Verfügung stellt; die Pädiatrische Onkologie kann auf das Mitleid der spendenwilligen Bevölkerung für die kleinen vom Tod bedrohten Patient/innen zählen. Zumindest auf kleiner Flamme gesicherte Wissenschaft: Eine Stelle für eine/n PhD Studenten/in, eine Stelle für eine/n Techniker/in; dazu Bench Money. Meine eigene Stelle muss ich nicht finanzieren, ich bin im Spital angestellt. Über Drittmittelfinanzierung erreicht meine Forschungsgruppe zeitweise eine Größe von 6-8 Personen.
Ich sehe während meiner Zeit in der Akademischen Forschung viele hoffnungsvolle Jungakademiker/innen an mir vorbeiziehen. Alle träumen sie: Freiheit von Wissenschaft & Forschung; Ausleben der angeborenen Neugier; freie Gestaltung der eigenen Arbeit; etc. Im Idealfall sind das nicht nur Träume; hat man es einmal geschafft, kann man diese Phantasien ausleben – zumindest in der kurzen Zeit zwischen einer Förderzusage und dem Schreiben des nächsten Projektantrags. Ist es die Hälfte der Zeit, die man in die Finanzierung der eigenen Forschungsgruppe investiert? Nein! Es ist die ganze Zeit, weil selbst bei der Planung eines neunen Experiments denkt man daran, wie sich dessen Ergebnisse im nächsten Antrag auf Fördergelder verwerten lassen.
Das hat den Jungakademiker/innen vorher niemand gesagt. Sie wissen auch nicht, dass sie nur dann eine Chance auf Finanzierung haben, wenn sie in ihrem Lebenslauf eine ausreichende Anzahl an Publikationen mit ausreichend hohem Profil listen können. Impact Factor nennen wir das: Angeblich das Maß für den Einfluss einer wissenschaftlichen Publikation auf den Fortschritt der Wissenschaft … hmmmm … Okay, dazu kommen wir noch. Man hat den angehenden Wissenschafter/innen auch nicht gesagt, dass sie bei der Projektplanung schon die Verwertung der erarbeiteten Daten mitberücksichtigen müssen – publish or perish!
Die jungen Naturwissenschafter/innen kennen nur die Akademische Welt: Studium, Diplomarbeit, PhD – und dann halt Forschung & Lehre. Andere Möglichkeiten, mit ihrer Ausbildung Geld zu verdienen, sehen sie nicht. Es sagt ihnen auch niemand. Ihre Professor/innen und Betreuer/innen wissen es selber leider auch nicht; auch sie haben seit dem Beginn ihres Studiums die Akademische Welt nicht verlassen. Das bittere Erwachen beginnt oft mit Abschluss des PhD’s. Es hat sich herumgesprochen, dass ein PhD für eine Fixanstellung in der Akademischen Forschung bei Weitem nicht reicht. Also Postdoc! In den prominenten Forschungseinrichtungen bewerben sich unzählige Kandidat/innen für jede ausgeschriebene Stelle. Erfolgreich sind praktisch immer nur diejenigen, deren Dissertation als wissenschaftlicher Artikel in einem angesehenen Journal publiziert wird; ein Paper ist das Minimum, weitere Publikationen erhöhen die Chancen – publish or perish!
Oft erwarten die gastgebenden Institutionen, dass ein Postdoc sein eigenes Geld mitbringt. Die Topuniversitäten können es sich leisten, ihren Postdocs kein Gehalt zu bezahlen. Sie stellen lediglich die Infrastruktur zur Verfügung. Manchmal drei Jahre, manchmal vier, aber spätestens dann ist die Förderung abgelaufen. In der Zeit muss publiziert werden, je prominenter desto besser – publish or perish. Top Forschungsgruppen an Top Universitäten erleichtern das Publizieren. Ganz wenige publizieren so gut, dass sie sich erstmals Chancen auf eine fixe Anstellung machen dürfen. Noch immer befristet, etwa der Tenure Track, aber zumindest nicht mehr ausschließlich von der Finanzierung durch Drittmittel abhängig. Die meisten schaffen es trotz dem einen oder anderen Paper nicht. Konsequenz: ein weiterer Turnus als Postdoc – Senior Postdoc, damit es zumindest etwas besser klingt. Und das Spiel wiederholt sich – publish or perish!
Der Großteil schafft es nicht und gibt irgendwann auf. Die in der Biomedizinischen Wissenschaft nicht Erfolgreichen landen in der Pharmaindustrie oder deren Zulieferern und Dienstleistern: Verkauf & Marketing, Projektmanagement, Administration Klinischer Studien, aber in den seltensten Fällen Wissenschaft und Forschung. Die Pharmaindustrie verdient das große Geld; dort gibt es daher die Jobs. Nicht mehr so viel Geld wie noch vor einigen Jahren; nicht mehr so viele Jobs wie noch vor einigen Jahren. Aber wohin sonst soll man nach einem Jahrzehnt Biomedizinischer Forschung gehen?